B
Buch
Wiedergabe
Schrift Bevor Buchdruck und Filmtechnik erfunden und verbreitet wurden, besaßen die hörende und die Taube Kultur gleichermaßen eine „mündliche“ Literaturtradition. Mündlich insofern, da beide auf der direkten Kommunikation und Vermittelung von Person zu Person basierten und keine schriftliche Grundlage hatten. Zwar gab es in den Kulturen des europäischen Mittelalters ebenso wie in den Taubenkulturen des 19. Jahrhunderts schriftliche Texte, aber sie waren für die alltägliche Kultur und Erzähltradition nicht zentral. *
Gebärdensprachliche und mündlich-lautsprachliche Literatur wurde auf keinem Medium festgehalten, sondern live vorgetragen und durch direkten Austausch verbreitet. Bis Buch und Film als Speichermedien aufkamen, waren Texte waren flüchtiger, beweglicher und weniger verbindlich. ** 
Heute gelten schriftlich fixierte Texte als die Literatur schlechthin, und das Buch ist zu ihrem zentralen Medium geworden, das inzwischen in gedruckter und digitaler Form existiert. Gleichermaßen wurde es mit der Entwicklung der Videotechnik möglich, gebärdensprachliche Performances aufzuzeichnen und zu verbreiten. Die Bücher der Gebärdensprachliteratur sind also Filme. Sie lassen sich nicht auf Papier drucken, sondern prägen als digitale Bewegttexte ein eigenes Buchformat, das die Gestaltungsverfahren und Techniken der Film- und Buchproduktion verbindet.

* Krentz 2006: 52f: „Before the arrival of print and film, both hearing and Deaf cultures were ‚oral‘ in that they were based on live, face-to-face communication. (…) Both medieval European and nineteenth-century Deaf cultures had wirting, which seems antithetical to an oral/manual society. (…) Yet it normally played a secondary role to oral/manual exchange. In Europe before print, formal writing was often in Latin.“ 

** Krentz 2006: 51: „Before the advent of film technology, people had no effective way to record American Sign Language. (…) Deaf Americans passend on stories, poetry, and folklore in ASL by sign of hand, without the intervention of recording equipment. In this way, sign culture resembled oral cultures (cultures without writing). (…) All communication through ASL had to happen live and face to face. The arrival of film technology in the early twentieth century changend this dyncamic: it enabled people to capture and preserve what had once seemed transitory.“ 


D
Deutsche Gebärdensprache?
Ist eine visuell-manuelle Sprache, die sich vom gesprochenen und geschriebenen Deutsch unterscheidet. Sie besitzt eine eigene Grammatik sowie ein spezifisches Lexikon und ist das bevorzugte Kommunikationsmittel von Tauben Menschen in Deutschland. Sie besteht einerseits aus der manuellen Komponente, den Händen und Armen. Andererseits sind auch nicht-manuelle Komponenten wie Mimik, Blick, Kopf, Oberkörper und Mundbild wichtige Elemente des gebärdensprachlichen Kommunikationssystems. Schon immer bringt die Gebärdensprachgemeinschaft auch gebärdensprachliche Kunst- und Literaturformen hervor. Die Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache (abgekürzt DGS) als offizielle und eigenständige Sprache gelang in Deutschland erst im Jahr 2002. Durch die Wahrnehmung der Gebärdensprachgemeinschaft als eine Sprach- und Kulturgemeinschaft ist die Deutsche Gebärdensprache in die Öffentlichkeit gerückt. Das Forschungfeld der Deaf Studies und Gebärdensprachstudien findet auch in der Wissenschaft immer mehr Beachtung.


I
International Sign Language (ISL)
Gebärdensprache ist nicht universal. In fast allen Ländern der Welt haben sich eigene Gebärdensprachen gebildet. Wie in Lautsprachen auch, existieren in einer nationalen Gebärdensprache verschiedene regionale Dialekte und Besonderheiten. Zur internationalen Verständigung wurde in den Siebziger Jahren die International Sign Language (ISL) erfunden.


L
Lautsprachbegleitende Gebärden (LGB)
Lautsprachbegleitende Gebärden (LGB) sind eine Form des Gebärdens, die sich an der Struktur der gesprochenen Sprache orientiert. Sie gilt nicht als eigenständige Gebärdensprache, sondern wird häufig als gebärdete Lautsprache angesehen und z.B. in hörend-Tauben Familien verwendet.


Literatur
Wiedergabe
Schrift Nur für hörende und schreibende Menschen ist es selbstverständlich, dass mit Literatur Texte gemeint sind: Erzählende Texte (Roman), dramatische Texte (Theater, Film), poetische Texte (Gedichte, Lieder) werden von den Sachtexten (Zeitung, Nachrichten, Wissenschaft) abgegrenzt. Vor allem im heutigen Westeuropa wird davon ausgegangen, dass solche Literatur nur ein schriftlicher Text sein kann, der aus Wörtern und Sätzen besteht und in Zeilen von links nach rechts gelesen wird. Literarische Texte werden in Büchern veröffentlicht (entweder gedruckt oder digital), sodass man sie in Bibliotheken ausleihen und Buchhandlungen kaufen kann. Literatur kann auch gehört werden, wenn sie bei Lesungen live vorgetragen, auf Bühnen gesungen, im Privaten vorgelesen, oder als Audio-Aufnahme (Hörbuch, Radio) abgespielt wird.
Dieses Verständnis wird selten hinterfragt, weil die Universitäten, der Literaturbetrieb und Buchhandel von hörenden Menschen bestimmt werden.
Denn Literatur ist mehr als nur geschriebener Text. Erzählung, Theater und Poesie gibt es in mündlichen und gebärdensprachlichen Kulturen genauso. In Literatur in deutscher Gebärdensprache besteht ein Text nicht aus Wörtern, sondern aus Hand- und Körperzeichen, Bewegungen und Bildern. Sie brauchen Körper und Raum, nicht Papier und Zeile. Diese visuellen Texte können gefilmt, aber nicht aufgeschrieben werden. Weil sie schlecht in traditionelle Bücher und Bibliotheken passen, bleiben sie im Literaturbetrieb meist unsichtbar* und werden ignoriert: „Wir haben ihnen [hörenden Literaturwissenschaftler*innen] alles über Gebärdensprachliteratur erklärt, wir haben es ihnen noch mal erklärt und noch mal, aber sie begreifen es einfach nicht. Also müssen wir sie ihnen zeigen. (…) Hier kommt eine visuelle Sprache, und sie passt nicht wirklich in die Mechanismen der Produktion und Publikation [von Literatur], die in der Wissenschaft herrschen.“ ** 
 * Brueggemann 2009: 61: „The barriers (…) were those of the politics of publishing and funding for the advancement, dissemination, and archiving of ASL literature (…) sign language scholars have to keep convincing language and literature scholars again and again that ASL (including its literature and culture) exists. 

** Baumann bei Brueggemann 2009: 62ff: „We’ve been telling and we’ve been telling and we’ve been telling them all about the ASL literature and they’re just not getting that point. So we have to show them. (…) Here comes a visual language, and it really doesn’t fit into the system of the mechanics of publication and production we have in the academy.“


Lesen
Wiedergabe
Schrift Lesen ist das Wahrnehmen, Aufnehmen und Deuten von Texten und kulturellen Zeichen. Denn Kultur bringt eine Vielzahl von „Texten [hervor], die über das geschriebene oder gesprochene Wort hinausreich[en] und auch Rituale, Theater, Gebärden, Feste umfass[en].“ * 
Nicht nur Texte aus Wörtern und Zeilen werden gelesen, sondern auch visuelle Texte, Mimiken, Bewegungsfolgen, Symbole. Auch wenn wir eine Sprache beherrschen, verstehen wir nicht alles, was wir lesen. Viele Texte sind nicht eindeutig, sie können immer wieder gelesen und neu verstanden werden (z.B. Gedichte).
Die Lesegewohnheiten hängen davon ab, was man liest: „In gebärdensprachlicher Literatur wird aus Lesen Schauen, Bücher werden Videos und die Papierseite wird ein performender Körper. (…) Anders als ein Wort nach dem anderen zu hören, oder von links nach rechts zu lesen, folgen wir dreidimensionalen, beweglichen Bildern, ein Erlebnis, das dem Kinobesuch vielleicht näher kommt als dem Lesen eines Buchs.“ **

* Geertz 1999: 16 

** Baumann 2006: 2: „In sign literature, reading becomes viewing, books become videos, and paper becomes a performing body. (…) Rather than hearing word afer spoken word, or reading from left to right, we follow three-dimensional, kinetic images, an experience perhaps more akin to watching cinema than reading a book.“ 


T
Taub
Wir verwenden das Adjektiv Taub in der Großschreibung und beziehen uns damit auf das englischsprachige Begriffskonzept Deaf. Dabei handelt es sich um eine Selbstbezeichnung von „Menschen, die sich den Gebärdensprachen, den Gemeinschaften und Kulturen des Kollektivs der Gehörlosen verbunden fühlen. Viele Taube sehen darin grundlegende Entsprechungen zum Erfahrungsschatz anderer sprachlicher Minderheiten.“* Taubsein, angelehnt an das Konzept Deafhood,** grenzt sich ab von der defizitären medizinischen Sichtweise des Terminus gehörlos und beruft sich auf die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Minderheit mit ihrer eigenen Sprache. Taub schließt verschiedene Identitäten und Lebensrealitäten wie gehörlos, schwerhörig, CI-tragend sowie spätertaubt ein.
*  Ladd 2008: xiii 
**  Ladd 2008: xiv


U
Übersetzen
Wiedergabe
Schrift Beim Übersetzen kommt ein Text in Bewegung, von einer Sprache in die andere, von einem kulturellen Kontext in einen anderen. Besonders beweglich muss ein Text werden, wenn er das schriftliche Zeichensystem verlässt. Weil ein Gedicht, das in Gebärdensprache übersetzt wird, kein schriftlicher Text mehr ist, sondern ein visuell und räumlich performter Text. Er passt auf keine Seite mehr.
Gebärdensprachliche Literatur stellt die traditionelle Definition von Literatur als Text in Frage. Sie findet eine lyrische Sprache jenseits von Schrift und Wort. Gebärdensprache nutzt in der Regel kein Notations- oder Schriftsystem, nur im wissenschaftlichem Kontext findet ein solches Verwendung. Literatur in Gebärdensprache lässt sich nicht abdrucken: Sie artikuliert sich als körperlich und räumlich gebundene Performance. Sie bringt also nicht nur Text, sondern auch das Denken über Text in Bewegung. 
„In gebärdensprachlicher Literatur wird aus Lesen Schauen, Bücher werden Videos und die Papierseite wird ein performender Körper. (…) Anders als ein Wort nach dem anderen zu hören, oder von links nach rechts zu lesen, folgen wir dreidimensionalen, beweglichen Bildern, ein Erlebnis, das dem Kinobesuch vielleicht näher kommt als dem Lesen eines Buchs.“ *

*  Baumann 2006: 2: „In sign literature, reading becomes viewing, books become videos, and paper becomes a performing body. (…) Rather than hearing word after spoken word, or reading from left to right, we follow three-dimensional, kinetic images, an experience perhaps more akin to watching cinema than reading a book.“