Bitte nicht übersetzen



Warum Gebärdensprachliteratur ausschließlich im Auge des Betrachters bleiben soll

Schrift Essay von Thomas Mitterhuber

In der Geschichte der Menschheit ist Gebärdensprachliteratur eine sehr junge Kunstgattung. Die Gesamtheit und Vielfalt an Kunstwerken einer Sprache – zum Beispiel Gedichte, Romane oder Musiksongs – erzählt viel über Status und geschichtliche Entwicklung einer Sprache. Wie verbreitet war die Sprache? Wurde sie gefördert oder hatte sie Unterdrückung erfahren? Welche technischen Mittel zur Erfassung und Verbreitung von Werken gab es? Diese Fragen lassen sich für Gebärdensprachliteratur zusammenfassend damit beantworten, dass es für sie bis vor wenigen Jahrzehnten nicht die gleichen Möglichkeiten zur Entfaltung gegeben hatte wie Deutsch, Französisch oder Englisch.

Der Mailänder Kongress 1880 markierte den historischen Tiefpunkt einer jahrhundertelangen sprachlichen Unterdrückung, der tiefe Narben in den kollektiven Leib der Gebärdensprachgemeinschaft riss. Über Jahrzehnte hinweg wurde Gehörlosen systematisch von klein auf eingetrichtert, dass die Kommunikationsform, die sie untereinander anwendeten, primitiv war. Verboten in den deutschen Gehörlosenschulen, tat man die Gebärdensprache als Affensprache, als „Plaudern“ ab. Eine unzivilisierte Kommunikationsart für kognitiv eingeschränkte Menschen, ausschließlich für niedere, alltägliche Botschaften, ungeeignet für komplex-abstrakte Inhalte. 

Einzig das Deutsche sei, insbesondere in lautsprachlich geäußerter Form das Ziel, das Erstrebenswerte, ja gar der Schlüssel zu Höherem, zur gesellschaftlichen Teilhabe. Auf der Strecke blieb neben der Bildung das Bewusstsein über den Reichtum, das Potenzial der Gebärdensprache. Diese vorurteilsbehaftete Denkschule ist immer noch verbreitet und sorgt bis zum heutigen Tage für Barrieren in verschiedenen Lebensbereichen Gehörloser. 

Erst seit der Jahrtausendwende verstehen sich immer mehr Gehörlose nicht nur als Menschen mit einer Hörbehinderung, sondern richtigerweise auch als Mitglieder einer sprachkulturellen Minderheit. Künstlerische Auseinandersetzungen in und mit der Gebärdensprache hatten in Deutschland erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts wieder breitere Konjunktur. Zunächst nur unter Gehörlosen, später auch unter Hörenden, die von dieser visuellen Ausdrucksform faszinierend sind, sie nutzen und verbreiten wollen. 

Dazu gehört auch das Projekt der Literaturinitiative handverlesen. Die Idee, eine „Online-Bibliothek für Gebärdensprachliteratur“ aufzubauen, ist großartig. Gebärdensprachliteratur, bislang nur in Form von Videos, muss man sich bislang mühsam im Internet zusammensuchen. Eine Bibliothek wäre demnach eine Aufwertung der Gebärdensprachliteratur und zugleich Inspirationsquelle für Künstler*innen. Außerdem wollen die Initiator*innen für eine stärkere Präsenz Tauber Künstler*innen auf Bühnen und in Büchern sorgen – ein im Grunde begrüßenswertes Ziel.

Von der soeben beschriebenen sprachlichen Tyrannei, dem Oralismus, haben sich die Gebärdensprachen Europas bis heute noch nicht vollständig erholt. Viele Gehörlose aus älteren Generationen betrachteten – und betrachten heute auch noch – die Gebärdensprache als Werkzeug, als notwendiges Hilfsmittel. Die Gebärdensprache als Kunstform, als Quell kreativer Spielarten wird dabei kaum in Betracht gezogen. 

Meines Erachtens ist das einer der Gründe, warum ich bei älteren Gehörlosen ich immer wieder dieselbe Beobachtung mache: Sie fühlen sich von gebärdensprachliterarischen Stücken nicht angesprochen. Zum Einen ist die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Stück eher gering. Und wenn doch, versuchen sie, sich auf den Inhalt zu konzentrieren – und übersehen dabei oft die einzigartige Stärke der Gebärdensprache, das visuell-manuelle Spiel mit dem ganzen Körper. Handform, Bewegung, Rhythmus, mimischer Ausdruck – genau dieses Zusammenspiel ist Musik für die Augen.

Oder wie es in Deutscher Gebärdensprache heißt: „Augenschmaus“. Gebärdensprachkundige wissen, welche wunderbare Gebärde gemeint ist, die so viel mehr erzählt als diese zwölf Buchstaben. Und für den Rest der Menschheit heißt es leider: lost in translation. Das ist die Crux des Übersetzens, das ewige Dilemma des Dolmetschers, dessen Berufsbild als einer der ältesten gilt. Übersetzt man zwischen Sprachen, gibt es immer Verluste. Verluste an Informationen. Verluste an Ausdruck. Verluste an Schönheit. 

Das liegt hauptsächlich, dass sich Übersetzungen gerne auf den Inhalt reduzieren. Wem nicht klar ist, was damit gemeint ist, der sehe sich einen untertitelten Film auf DVD an. Ob der Held brüllt oder die Lady flüstert, es kommt ein Einheitsweiß, die immergleiche Schriftgröße. Für jede einzelne Sprechrolle. Allenfalls ein Ausrufezeichen oder Geräusch-Hinweise in den Untertiteln geben minimale Andeutungen auf die rein akustisch erfassbaren Informationen. Tonhöhe, Sprechpausen, Stimmungsschwankungen kommen nicht beim gehörlosen Zuschauer an. Diese (zwischen)menschlichen Beiwerke, die viel über Charakter, Gemütslage und Verhältnis der Filmrollen erzählen, diese werden für uns ersatzlos herausgefiltert. Unnötiger – oder unübersetzbarer? – Ballast. 

Oft führen Untertitelmacher die Lesbarkeit als Argument auf, der Zuschauer soll ja nicht nur lesen, sondern auch was vom Film mitbekommen. Leuchtet schon ein, ja. Trotzdem gibt es unstreitbar Verluste für uns. Wenn ich mir also übers Internet einen untertitelten Film für 5 Euro streame und trotzdem nicht in den gleichen Genuss wie ein Hörender kommen kann, ist das fair? Oder ist das halt so, weil das Kunst ist und eben im Auge des Betrachters – beziehungsweise im Ohr des Hörers – liegt?

Nun, selbst viele Gebärdensprachdolmetscher übersetzen nur den Inhalt und lassen das Drumherum liegen. Nicht absichtlich, sondern weil simultanes Dolmetschen einem sowieso viel abverlangt und weil die meisten Dolmetscher – anders als Lautsprachdolmetscher – nicht in ihre Muttersprache übersetzen. Erst nach mehreren Berufsjahren lassen sich erste Resultate sehen, wo das zwischenmenschliche, nicht minder wichtige Beiwerk mit verdolmetscht wird.

Von einer Sprache in eine andere zu übersetzen, ist gewiss eine Herausforderung. Sie wird jedoch fast zur Unmöglichkeit, wenn es sich um einigermaßen anspruchsvolle künstlerische Werke handelt. Man denke bloß an die unzähligen Ausrutscher eingedeutschter Titel von Hollywood-Schinken. Zudem werden nicht umsonst US-Filme in Kinosälen und auf Netflix gerne im Originalton angesehen. Und die deutschen Hitlisten sind voll von englischsprachigen Musikstücken. Dass nicht jeder deutsche Musikhörer die Songtexte versteht, wird offenbar hingenommen. Denn schon Schopenhauer hielt Poesie für unübersetzbar: „Gedichte kann man nicht übersetzen, sondern bloß umdichten, welches allezeit misslich ist.“

Will man aber Poesie von der DGS ins Deutsche (oder andersrum) übersetzen, kommt noch ein zusätzliches, größeres Erschwernis hinzu: Anders als zwischen zwei Lautsprachen ist es hier die Übertragung von einer visuell-manuellen in eine akustisch-phonetische Sprache. Auge versus Ohr. Raum versus Ton. Bildhaftigkeit versus Abstraktion. Hier prallen also gegensätzliche Ausdrucks- und Wahrnehmungswelten aufeinander. Gerade künstlerische Spielarten, die für die jeweiligen Sprachen charakteristisch sind – die Tonmelodie in der Lautsprache oder die mimische Ausdruckskraft der Gebärdensprache – fallen Übersetzungsverlusten unweigerlich zum Opfer. Solche Elemente werden bisweilen reduziert, zerstückelt, verfälscht wiedergegeben. 

Wie groß der Gegensatz zwischen den beiden Sprachmodalitäten ist, will ich anhand eines Beispiels aufzeigen: Die Textübersetzung der Gebärdensprachpoesie „Alle Finger“ von Julia Hroch und Kassandra Wedel – ein sehenswertes Duett – wirkt auf mich wie ein Versuch, die Bewegung der Gebärden einzufangen. Die im Raum platzierten Wörter ergeben keinen Sinnzusammenhang. Die Ästhetik des Wechselspiels von Hroch und Wedel geht dabei verloren. Und auch, dass die Gebärdensprachpoeten mit wenigen Handformen arbeiteten und am Ende zu einer Einheit verschmolzen: lost in translation.

Das Gedicht „Wind“ von Eugen Gomringer dagegen ist ein interessantes Gegenbeispiel. Es hat nicht die klassische Zeilenstruktur, sondern baut die Buchstaben W, I, N und D in mehrfacher Ausführung auf in einer eigenen Raumstruktur. Ansonsten gibt es nichts. Auf diese reduzierte Visualität aufbauend konnte die Adaption in Gebärdensprachpoesie vergleichsweise nah an der Textvariante interpretiert werden. Auf der Webseite sind sogar gleich drei Varianten von verschiedenen Gebärdensprachpoeten zu sehen. 

Bei den restlichen Poesiestücken sind die „Übersetzungen“ vielmehr Neuinterpretationen oder fast eigenständige Stücke. Mit den ursprünglichen Vorlagen haben sie nur wenig gemeinsam. Denn: Je mehr Interpretationsspielraum ein Kunstwerk zulässt (ein Gedicht kann man z.B. in der Regel auf mehr Arten interpretieren als ein ZDF-Vorabendfilm), desto weniger wird eine Übersetzung dem Kunstwerk gerecht. Die Übersetzung verändert, verfremdet es gar in seinem Wesenszustand. Und zwar oft über eine Interpretation hinaus. So gesehen wäre die Kunst nicht mehr im Auge des Betrachters, sondern des Übersetzers. 

Keiner käme schließlich ernsthaft auf die Idee, Shakespeare zu analysieren und dabei nur deutsche Übersetzungen zu verwenden. Will man die Intention, die Botschaft des Künstlers verstehen, gilt es dessen Kunstwerke in ihrer ursprünglichen Form in Betracht zu ziehen. Selbst dann, wenn es, wie im Falle von Gebärdensprachliteratur, bedeuten würde, die Gebärdensprache erst mal erlernen zu müssen. In die gleiche Bresche schlägt die jüngere Debatte ums Musikdolmetschen. Die Aktionsgruppe Deaf Performance Now hält Musik beziehungsweise Kunst für unübersetzbar und fordert unter anderem den Einsatz von tauben Muttersprachlern, die ihre Performances gemeinsamen mit den Musikbands erarbeiten sollen, statt deren Songs bloß zu dolmetschen. Die Idee ist, durch einen tieferen künstlerischen Zugang, das gemeinsame Entwickeln und die höhere Sprachkompetenz einen Output „aus einer Hand“ zu liefern. Gebärdensprache soll als integrierter Bestandteil des Gesamtkunstwerks verstanden werden. Gemäß dieser Idee hatten bei der Literaturinitiative hörende und taube Künstler*innen auf Augenhöhe zusammengearbeitet. Allerdings werden die gemeinsam erarbeiteten Stücke weiterhin als Übersetzungen bezeichnet, was aus meiner Sicht irreführend ist. Im Musikdolmetschen setzt sich deshalb allmählich der Begriff Musikperformance durch. Gebärdensprachkünstler sollten sich vermehrt auf die einzigartigen Stärken ihrer Sprache besinnen. Die Nutzung des Raumes, die Bewegung, der körperliche Ausdruck – es ist der einzigartige unique selling point der Gebärdensprache, darin allen Lautsprachen weit überlegen. Diese Kunst sollte, um dieser abgedroschenen Phrase eine erweiterte Bedeutung zu geben, ausschließlich im Auge des Betrachters liegen. Das heißt: ohne Übersetzungsversuche, ohne Gegenüberstellung der Textversion.

Damit sich die junge Gattung der Gebärdensprachliteratur entfalten und weiterentwickeln kann, braucht es Raum – im doppelten Wortsinne. Sie muss sich als eigenständige Kunstform etablieren können. Mit Übersetzungen, egal in welche Richtung, täte man ihr keinen Gefallen. Poesie, insbesondere Gebärdensprachpoesie, lässt sich nämlich – da halte ich es mit Schopenhauer – kaum übersetzen.